VON DER STILLE

Manuka Genialis

10/5/2017

Es scheint so, als ob viele Menschen unsägliche Angst davor hätten, von der Stille übermannt zu werden.

DIE STILLE.

Dieser Zustand, den man gemeinhin als „ruhendes Nichtstun“ beschreibt, wo man - oh Graus – nichts anderes zu tun hat als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Noch schlimmer – mit den eigenen Gedanken und Gefühlen. Es ist nun ja nicht gerade so, dass man permanent davor weglaufen würde – aber es ist allgemein auch nicht besonders beliebt, den eigenen Gedanken und Gefühlen quasi von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu trete

Sich selbst zu sehen wie man ist scheint kein weitverbreitetes Freizeithobby zu sein.

Lieber sieht man anderen dabei zu, wie die sind. Im Kino, im Fernsehen, bei der Arbeit, in Nachbars Garten. Und wenn man ganz hart im Nehmen ist, dann vergleicht man sich auch noch mit denen. Das fällt uns ja vergleichsweise leicht, immerhin üben wir das schon seit frühester Kindheit. Ist es nicht eine Absurdität, dass wir als Erwachsener mühselig wieder neu lernen müssen, was wir als Kind mühselig verlernten?

Hätte mir als Kind jemand erklärt: „Alles, was Erwachsene tun resultiert aus ihrem vergessenen Selbst - deswegen halten sie es auch für richtig, dass du dein Selbst vergessen sollst.“ – welche Auswirkungen hätte das wohl gehabt?

Aber Gottseidank gibt es da ja noch die Stille. Denn sie ist genau der Ort, wo alles möglich ist. Eben gerade deswegen, weil alles da ist. Nichts wurde hier je wirklich vergessen. Schon gar nicht vom Selbst.

Die Stille ist wie der Datenspeicher des Seins.

Ja klar, auch von den „schlechten“ Sachen – Wut, Hass, Schuldgefühle, Trauer, etc. Doch sieht man einfach mal neutral hin, erkennt man recht schnell woher diese „schlechten“ Gefühle und Gedanken eigentlich stammen: Sie sind allesamt nur negative Ergebnisse aus positiven Erlebnissen. Eine Bruchrechnung, sonst nichts.  Eigentlich easy, oder?

„Ja mei, wenn das alles so easy ist – warum san denn die meisten Leut so unz‘frieden?"

„Ja mei, weil’s des Glück eben net zu kaufen gibt mei Liaba! Des muss ma sich schon selber machen, gell! Und’s Glück kann man halt net auf an Haufen Hass und Neid und Selbstzweifel aufbauen, des g’hört zuerst scho fei weggräumt!“ Also macht man sich an die Arbeit – bzw. macht man mal „nichts“.

Einfach mal zusehen, so wie bei einem Horrorfilm – ganz vorsichtig zwischen den Fingern hindurch. Wir wissen ja, uns kann nichts Böses geschehen – es ist nur ein Film. Der Film unseres eigenen Lebens. Und die Stille ist die Kinoleinwand. Eigentlich ist es total spannend – denn nun erscheint der eigene Wachhund. Der sieht ja gar nicht so furchteinflößend aus, also kann man die Finger schon mal weglassen.

Und wenn man den eigenen Wachhund nun von der Leine lässt statt ihn festzuhalten, dann rennt der erstmal kreuz und quer durch sämtliche Gefielde und kanns kaum fassen, dass er jetzt endlich frei rumlaufen kann. Kaum zu bändigen ist der. Da muss man sich eben entspannt zurücklehnen und ihn mal toben lassen – der beruhigt sich schon wieder.

Von manchen wird dieser Hund auch „innerer Schweinehund“ genannt. Huiiii, der rennt wie ein Wilder!

Rauf auf den Berg der Schuldgefühle, runter ins Tal der Selbstzweifel, entlang des Flusses der Sehnsucht folgend der Fährte der Wahrhaftigkeit. Wenn er dann wieder zurückkehrt und vor dir steht – hechelnd vor Anstrengung und mit dem Leuchten der Erkenntnis in seinen Augen – ist er überglücklich. Er wedelt mit dem Schwanz und leckt dein Gesicht. Er setzt sich neben dich und legt seinen Kopf auf dein Knie.

Denn er hat dich lieb. Ganz lieb.

Weil du ihn freigelassen hast - und damit auch dich selbst. Er muss dich nun nicht mehr ziehen, weil du nicht mehr festhältst. Also – ist eigentlich überhaupt nichts Schlimmes passiert. Eigenartig.

Gut, ein paar Tränchen sind geflossen, vielleicht hat man ein paar Schimpfworte ausgesprochen … aber davon geht die Welt auch nicht unter. Schlussendlich kommt man dahinter, dass der Film des eigenen Lebens gar kein Horrofilm war - und die Angst hinzusehen bestand nur deswegen, weil einem niemand gezeigt hat wie man hinsieht

Wir sind eben Meister der Selbstverblendung geworden.

Weil dies die einzige Strategie zur Schmerzbewältigung ist, die wir je gelernt haben. Das ist alles. Easy, oder? Wir sollten also ab und zu mit unserem Wachhund Spazieren gehen, damit wir uns selbst wiederfinden. Wir brauchen auch kein Spielzeug dafür – er bringt uns freiwillig alles, was man verloren hat. Damit schafft man Platz für das, was ist.

Um zu sein, wer man ist.

M.

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